Die Entwicklung des Wushu im 18. Jahrhundert stellt vor allem eine Fortsetzung dreier charakteristischen Leitlinien des 17. Jahrhunderts dar: der Betonung der individuellen Kampfesweise, der Hinwendung zu waffenlosen Kampftechniken und des Wandels hin zur Lebenspflege. Diese neuen Schwerpunkte führten zu eine ständigen Bereicherung von Technik und Methodik der Kampfsysteme. Ihre Erforschung machte täglich Fortschritte. In der Folge entstand nacheinander eine Reihe von Theorien zur waffenlosen Kampfkunst.

Teil 3 – Von Tong Xudong
Aus Magazin für Chinesische Kampfkunst Heft 9 (2/2008 – ursprünglich in dieser und zwei folgenden Ausgaben erschienen), chinesisches Original erschienen in der chinesischen Kampfkunstzeitschrift Wuhun

Die Fortschritte im Wushu des 18. Jahrhunderts zeigen sich besonders deutlich in der tieferen Erkenntnis und der umfassenden Darstellung der Zusammenhänge bezüglich der Koordination von Hand, Auge, Körper und Schrittarbeit und auch der damit verbundenen Funktionen des menschlichen Körpers. Insbesondere wurde in dieser Zeit schon dem Zusammenhang zwischen Zhongqi – dem „zentralen Qi“ (des Dantian-Bereichs) aus der Lebenspflege und dem Shenqi – dem „Qi des Geistes“ (der geistigen Energie bzw. Entschlossenheit) aus dem Bereich der Kampfanwendung Beachtung geschenkt.

Repräsentanten der neuen Periode

Als Repräsentanten dieser Periode gelten unter anderem Cao Huandou, Chang Naizhou, Wu Zhong, Dai Longbang und Ma Xueli. Indem wir uns mit ihren Leistungen in der Kampfkunstlehre beschäftigen, können wir uns einen Begriff von den Besonderheiten und dem Stand der Entwicklung der chinesischen Kampfkünste des 18. Jahrhunderts machen. Im Folgenden sollen Cao Huandou und Chang Naizhou näher vorgestellt werden.

Cao Huandou

Von Cao Huandou sind die Lebensdaten nicht genau bekannt. 1784 vollendete er die Kompilation des Werks Quanjing Quanfa Beiyao[i] – „Kanon des Faustkampfs und Kompendium der Faustkampfmethoden“. Dieser Klassiker der waffenlosen Kampfkunst hatte zuvor einen fast zwei Jahrhunderte andauernden Prozess ständiger Revisionen und Ergänzungen durchlaufen.

Dieses Buch ist eines der wichtigsten Werke des 18. Jahrhunderts. Seine zusammenfassenden Erläuterungen zur geistigen Einstellung, Handtechnik, Schrittarbeit und Körpereinsatz erreichen ein sehr hohes Niveau. Mit dem Resümee, dass Hände, Füße und Körper „als ein Stück hineinschießen“, zeigt das Buch das Wesentliche jeglicher Angriffstechnik auf. Darüber hinaus werden darin die Zusammenhänge zwischen Kampftechniken und den Bewegungen des Körpers, der Hände und der Schritte sowie die Beziehung zwischen waffenlosem Kampf und Waffentechniken demonstriert. Dies zeigt sich deutlich in folgender Aussage:

„Im Faustkampf sind die Methoden des Körpereinsatzes, der Handtechniken und der Schrittarbeit enthalten. Tatsächlich stellt dies die dreiteilige Grundlage der Kampfkunst dar. Ist die Grundlage nicht vorhanden, gelingt es einem nicht, die Waffentechniken zu meistern. Möchte man die Waffentechniken meistern, muss man zunächst über den Faustkampf reden.“

Das in dem Buch erreichte Niveau der Kampfkunstlehre und die darin beschriebenen, allgemein gültigen Regeln der Anwendung sollten einen weit reichenden Einfluss haben auf die spätere Entwicklung der Kampfsysteme des Xingyiquan, Baguazhang, Taijiquan und des Tongbeiquan. Folgende Zitate mögen hierzu einen Eindruck vermitteln:

„Was die Handtechniken anbetrifft, so nutzt man die Lücke aus, um einzudringen. Man geht nicht gegen die Kraft des Gegners an. Man nutzt den richtigen Zeitpunkt zum Vorgehen aus. Man macht sich die Zweifel des anderen zunutze. Es ist wie bei Xiong Yiliao, der mit Bällen jongliert (und damit in der Geschichte des daoistischen Philosophen Zhuangzi sein Gegenüber aus der Fassung bringt); man bewegt sich in Kreisen, ohne Anfang und ohne Ende. Es ist wie bei dem Meisterkoch, der ein Rind zerteilt; sein Messer gleitet genau an die Stellen, an denen genügend Platz da ist, dass es eindringen kann.
Was den Körpereinsatz angeht, so ist man schwer wie der Berg Taishan und leicht wie eine in der Luft schwebende Gänsefeder. An den Stellen, an denen man sich auf und ab bewegt, gleicht man sanften Blüten, die tanzend durch die Luft fliegen. An den Stellen, an denen man zu einer anderen Bewegung wechselt, ist man wie ein lebendiger Tiger und ein leibhaftiger Drache.
Was die Schrittarbeit anbelangt, so ist diese nicht nur wunderbar sondern auch geheimnisvoll. Man kann kaum den Spuren folgen. Mal sind die Schritte lang, mal kurz – man kann sie nicht fassen. Geht man vor, so stemmt man sich gegen einen Berg. Geht man zurück, so stürzt man ins Meer.“

„Den Geist verbirgt man auf der Linie der Augenbrauen. Das Qi bewegt man im Inneren des Streifens um die Taille.“

„Es ist günstig, wenn der Körper weich und die Hände lebendig sind.“

Die wesentliche Kraft einer Kampfkunst

Cao Huandou beschäftigte sich erstmals relativ intensiv mit Fragen, die mit bestimmten Gesetzmäßigkeiten der Entstehung der wesentlichen Kraft einer Kampfkunst in Zusammenhang stehen. Er vollendete nicht nur das Werk „Kanon des Faustkampfs und Kompendium der Faustkampfmethoden“ sondern war auch selbst ein großer Kampfkünstler mit einer umfassenden Erfahrung. Von ihm wird gesagt, dass „er in der Gegend des Jangtse-Flusses, des Huai-Flusses, des Ost- und des Westufers des Zhe-Flusses sowie in der Gegend um den Berg Jingshan umherzog, zahllose Leute (bei Ihrer Kampfkunst) begutachtete und bei Vergleichskämpfen nie verlor.“

Aus diesen Gründen ist Cao Huandou zweifellos einer der wichtigsten chinesischen Kampfkünstler des 18. Jahrhunderts. Allerdings war seine akademische Leistung immer noch auf die empirische Darstellung beschränkt. Ihm gelang es noch nicht, auf die Ebene der Theorienbildung vorzustoßen. Auch ging er nicht näher auf die Beziehung zwischen innerer Kultivierung und Kampfanwendung ein.

Chang Naizhou

Über die Leistung von Chang Naizhou (1724-1783) innerhalb der Kampfkunstlehre können wir uns heute mithilfe seines Buches Chang Naizhou Wuji Lun – „Abhandlung über die Kampftechnik von Chang Naizhou“ ein Bild machen. Jedoch entstand die uns heute vorliegende Fassung des Buches zwei Jahrhunderte später im Jahr 1932. Xu Zhedong (1898-1967, auch bekannt als Xu Zhen) stellte diese Fassung zusammen, wobei er einige Teile hinzufügte und andere wegstrich.

Der Herausgeber Xu Zhedong gab auch zu, dass das Buch später hinzugefügte Inhalte umfasste und dass zahlreiche Stellen verändert worden waren. Außerdem sind Authentisches und Unechtes kaum noch voneinander zu unterscheiden. Daher kann man bei einigen Darstellungen in dem Buch nicht immer unbedingt davon ausgehen, dass es sich um eine Leistung aus der Zeit von Chang Naizhou handelt. Allerdings lässt sich der Ursprung des Buches bis zu Chang Naizhou zurückverfolgen – wenigstens das kann man als glaubhaft ansehen. Daher spiegelt das Buch im Großen und Ganzen die Merkmale und das Erscheinungsbild der Kampftechniken in der Region der chinesischen Zentralebene während der mittleren Periode der Qing-Dynastie wider.

Das zentrale Qi

In der von Xu Zhedong überarbeiteten und 1932 fertig gestellten „Abhandlung über die Kampftechnik von Chang Naizhou“ finden sich recht tief gehende Darstellungen zur geistigen Haltung, zu Handtechniken und Schrittarbeit sowie zur Entstehung und Anwendung der wesentlichen Kraft. Insbesondere die Erläuterung des Faustkampfs mithilfe des Begriffs des „zentralen Qi“ stellt einen Vorstoß in einen neuen Bereich der Erforschung der Kampfkünste dar.

Obwohl in der „Abhandlung über die Kampftechnik von Chang Naizhou“ somit bereits eine Theorie auftaucht, die besagt, dass das Fundament der Kampfkunst auf das „zentrale Qi“ zurückzuführen ist, kann von einer Einheit zwischen der Theorie des inneren Aspekts des „zentralen Qi“ und der äußerlich sichtbaren Kampftechniken noch nicht die Rede sein. Die optimale Verbindung zwischen dem gesundheitlichen Element der Pflege des Lebens und der Kampfanwendung lässt sich darin noch nicht erkennen.

Dennoch kann man festhalten, dass Chang Naizhou durch die Verbindungen, die er zum Yijing – dem „Buch der Wandlungen“, zu dem Prinzip von Yin und Yang, den Atemtechniken des Daoyin und des Tuna sowie zu der Lehre von den Leitbahnen des Qi aus der traditionellen chinesischen Medizin herstellt, die Erforschung der Kampfkunst auf eine neue Ebene hebt. Dies reicht hin bis zu den Körperfunktionen des Menschen. Aufbauend auf den Leistungen seiner Vorgänger gehen auch seine Untersuchungen zu den grundlegenden Gesetzmäßigkeiten der Handtechniken, Fußarbeit und des Körpereinsatzes noch einen Schritt weiter. Somit wurde er zu einem Repräsentanten für die Leistungen in der chinesischen Kampfkunstlehre des 18. Jahrhunderts.

Väter des Tongbei und des Xinyiliuhequan

Neben Cao Huandou und Chang Naizhou sollen noch folgende wichtige Persönlichkeiten jener Zeit erwähnt werden: Als ein bedeutender Erbe der klassischen Speertechnik und Kampfkunst verband Wu Zhong (1712-1802) die Technik des Liuhe Qiang – „Speers der sechs Verbindungen“ mit dem Bajiquan. Dies hob die klassische Speertechnik auf eine neue Stufe und wurde auch zu einem Bestandteil des später von Ma Fengtu (1888-1973) geschaffenen Tongbei-Kampfsystems.

Als eine wichtige Persönlichkeit, die die Leistungen von Ji Longfeng in der Kampfkunstlehre weiterführte und weiterentwickelte, wird Dai Longbang (1713-1802) von allen heutigen Stilrichtungen des Xingyiquan verehrt. Ein anderer bedeutender Kampfkünstler, der ebenfalls das Erbe von Ji Longfeng weiterführte und weiterentwickelte, war Ma Xueli (1715-1790). Er gilt als der Gründer der Xinyiliuhequan-Linie der Provinz Henan. Über die technische Stilistik des heutigen Xinyiliuhequan in Henan lassen sich Rückschlüsse auf die große Leistung von Ma Xueli ziehen. Dies betrifft geistige Haltung, Körpereinsatz, Handtechniken und Schrittarbeit. Eine Besonderheit von ihm waren die „vier Methoden und eine Technik“. Die Anwendung dieses Prinzips war einfach und hoch effektiv.

Allerdings ist es auch so, dass man die Leistungen dieser drei zuletzt genannten Personen im Bereich der Kampfkunstlehre nur schwer korrekt einordnen und bewerten kann, da es keine erhalten gebliebenen schriftlichen Werke gibt, die ihnen verlässlich zugeordnet werden können. Trotzdem sind sie zweifellos alle als Meister des Wushu des 18. Jahrhunderts mit großem Einfluss auf die Kampfkunst nachfolgender Generationen anzusehen.

Fortführung des Erbes

Ein Kennzeichen des chinesischen Wushu des 18. Jahrhunderts ist es, das durch die Fortführung des Erbes eines Wu Shu, eines Ji Longfeng und eines Chen Zouting den Meistern des 19. Jahrhunderts wie Dong Haichuan, Yang Luchan, Li Nengran, Wu Yuxiang und Guo Yunshen der Weg geebnet wurde. Dies ist auch in einem direkten Zusammenhang damit zu sehen, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse in der mittleren Periode der Qing-Dynastie relativ stabil waren.

Das Individuum im Zentrum des Übens

Mit der weit verbreiteten militärischen Anwendung von Feuerwaffen wurden die Kampfkünste in ihrer Rolle auf dem Schlachtfeld weitgehend zurückgedrängt. Dies förderte im positiven wie im negativen Sinne eine tiefer gehende Entwicklung der Kampfkünste. Wenn sie einerseits überhaupt noch eine Rolle mit ihrer Kampftechnik auf dem militärischen Schlachtfeld spielen wollten, mussten die Kampfkünstler die Effektivität ihre Kampftechnik in einem Ausmaß erhöhen, die eine Anpassung an den Kampf mit Feuerwaffen möglich werden ließ. Andererseits war der Rückzug der Kampfkünste vom Schlachtfeld vorteilhaft für eine Hinwendung hin zur Steigerung der individuellen Kampffähigkeit. So wurde es möglich, dass Kampfkünstler nach stetiger Perfektion ihres Könnens strebten. Außerdem wandelte sich in diesem Prozess das Ziel des Übens von Kampfkünsten hin zur Selbstkultivierung.

Nachdem die Kampfkünste ihre entscheidende Bedeutung auf dem Schlachtfeld verloren hatten, führten die zwei hier genannten Aspekte zu einer Entwicklung hin zu einem noch höheren Grad an technischer Perfektion. Diese Tendenz sollte zweihundert Jahre lang bestimmend sein. Danach erreichte die Entwicklung des chinesischen Wushu im 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt.

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[i]Quanjing Quanfa Beijyao 拳经拳法备要 – „Kanon des Faustkampfs und Kompendium der Faustkampfmethoden“ stellt ein zweiteiliges Werk dar, das auf dem Quanjing – „Kanon des Faustkampfs“ von Zhang Kongzhao 张孔照 (Lebensdaten unbekannt) beruht. Dieser „Kanon des Faustkampfs“ wird von Cao Huandou 曹焕斗 ergänzt und erläutert. Der zweite Teil Quanfa Beiyao – „Kompendium der Faustkampfmethoden“ stammt wahrscheinlich vollständig aus der Feder von Cao Huandou. In dem Werk werden waffenlose Kampftechniken des Shaolinquan teils illustriert erläutert.

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