Vorbemerkung des Übersetzers: Im zweiten Teil der Auszüge aus Yangshi Tajiquan shuzhen – „Wahre Darstellung des Yang-Taijiquan“ stellt Wang Yongquan die inneren Mechanismen und Strukturen seiner Linie des Yang-Stils dar. Hierin besteht einen wesentliches Merkmal seiner Lehre. Allerdings ist bei den folgenden Ausführungen ein Hinweis notwendig: In diesem zweiten von drei Kapiteln des Buches, das auf Wangs mündlichen Darstellungen beruht, hat Wangs Schüler Wei Shuren seine eigene Interpretation in Form seiner Fotos und eigener Formulierungen eingebracht.

Vieles an den Interpretationen von Wei Shuren ist in seiner konkreten Darstellung unter den Schülern von Wang strittig. Aber nicht das Prinzip der Anwendung von Yi in Form von vorgestellte Bildern in Kombination mit imaginierten dynamischen Zuständen. Der Text zeigt sehr gut die sehr speziellen Ideen von Punkten, Linien, Kreisen, Kugeln oder auch einer Glocke, die ein charakteristisches Merkmal bei den Übungen der Form der „Alten Sechs Bahnen“ darstellen. Im Folgenden der übersetzte Auszug.

Aus 杨式太极拳述真 – „Wahre Darstellung des Yang-Stil- Taijiquan“ – von Wei Shuren und Qi Yi kompiliert nach Unterrichtsanweisungen von Wang Yongquan, Volkssportverlag, Beijing, 1. Aufl. Sept. 1990 – Übersetzung Stefan Gätzner.

Innere Fertigkeiten und Methodik der wesentlichen Kraft

Wang Yongquan (r.) und sein Sohn Wang Zhongming

Diese Faustkampfform wird gewohnheitsmäßig als „Alte Sechs Bahnen“ bezeichnet. Ich habe sie in meiner Jugend von der Yang-Familie[1] gelernt. Alle Bewegungen und Abläufe haben ihre eigene tiefere Bedeutung. Das Zusammenspiel von Körperhaltung [sowie Arm-] und Handbewegungen mit den inneren Faktoren Geist – Shen –, bildhafte Vorstellung – Yi – und Energie – Qi – ist sorgfältig aufeinander abgestimmt. Die Übungscharakteristik unterscheidet sich tatsächlich von anderen Kampfstilen. Sie weist herausragende Wirkungen insbesondere bei der Akkumulation und Stärkung des Yuanqi – der „ursprünglichen Lebensenergie“[2] sowie bei der körperlichen Ertüchtigung und Krankheitsprävention auf. Aus diesem Grund betone ich beim Training die Anwendung einer Methodik der wesentlichen Kraft im Kontext innerer Fertigkeiten [im Folgenden kurz: Methodik der inneren Kraft]. Denn dies ist der springende Punkt, in dem sich das Taijiquan von den äußeren Kampfstilen unterscheidet. Dies ist von entscheidender Bedeutung – egal, ob es um die Gesundheitspflege oder die Kampfanwendung geht. Durch das Training dieser Faustkampfform kann man den Anfänger dazu bringen, dass er die Verbindung von Geist, Vorstellung und Energie im Taijiquan im Groben begreift und so für einen schnellen Fortschritt die Grundlage legt.

Kommt man zum ersten Mal mit der Methodik der inneren Kraft in Berührung, so ist dies für die meisten Menschen zunächst recht schwierig zu begreifen. Aber nach unermüdlichem Studium und Training kann man sie Schritt für Schritt verstehen und meistern. Wenn man anfängt die Form zu lernen, sollte man in etwa um die Inhalte der Formfiguren und die Methodik der inneren Kraft sowie ihre Unterschiede wissen. Das ist unabdingbar, um später systematisch den Yang-Stil des Taijiquan zu meistern.

Erläuterungen zur Methodik der inneren Kraft

Wenn man die Yang-Taijiquan-Form übt, kommt es beim Wechsel der Formfiguren neben den Veränderungen in den Positionen der Extremitäten und des Rumpfs auch darauf an, dass die Methodik der inneren Kraft, die das Innenleben der Figuren erfüllt, sich ebenfalls entsprechend anpasst. Nur dann entspricht man dem Faustkampfprinzip im Yang-Stil des Taijiquan, das eine Übereinstimmung von Innen und Außen erfordert, und schafft es, den ganzen Körper in Einklang zu bringen.

Die konkreten Inhalte, aus denen sich die Methodik der inneren Kraft zusammensetzt, sehen wie folgt aus:

Neiqi – innere Energie: Dies ist ein wichtiges Element, aus dem die innere Kraft besteht. Es handelt sich dabei um eine Qualität der Lebensenergie Qi, die durch das Üben der Faustkampfform über eine lange Zeit hinweg unter Ansteuerung durch die Vorstellung Yi entsteht. Sie verteilt sich im ganzen Körper und gehorcht auf das Kommando der bildhaften Vorstellung. Die innere Energie hat nichts mit dem Qi im Sinne von Atem zu tun. Der Wechsel von Konzentrierung und Auflösung im Körperinneren, Rotationen, Steigen und Sinken und andere Veränderungen entstehen durch die Wallung der inneren Energie in ihren unterschiedlichen Ausprägungen.

Neijin – innere Kraft: Sie ist ein Produkt der Synthese aus Geist Shen, Vorstellung Yi und Lebensenergie Qi, das durch das Training der inneren Fertigkeiten im Taijiquan entsteht. Sie kann mit dem Öffnen und Schließen der physischen Bewegungen im Inneren des Körpers wie ein großer Strom fließen. Außerdem ist sie eine flexible und wandelbare Kraft, die je nach Bedarf im Push Hands und den Kampfübungen aus dem Körper heraus gesendet werden kann und sich zudem direkt auf den Körper des Gegners auswirkt.

Bild 1

Bild 1

Bild 2

Bild 2

Quelle der Kraft: Diese befindet sich in der Mitte der Verbindungslinie zwischen den unteren Ecken der Schulterblätter. Sie ist die Stelle, die die Verteilung der inneren Kraft kontrolliert (siehe Bild 1 – vorgeführt von Wei Shuren, auch auf den folgenden Bildern – zum Vergrößern anklicken).

Lotlinie im Körper: Dabei handelt es sich um eine vorgestellte Linie, die genau in der Mitte des Körpers nach unten hängt. In der Anwendung kann sich diese nach Belieben ausdehnen und zusammenziehen. Sie kann nach oben bis auf Brusthöhe eingezogen werden, nach unten kann sie bis zu den Fußsohlen verlängert werden. Außerdem kann sie sich je nach Bedarf der Bewegung nach vorne und hinten, links und rechts bewegen (siehe Bild 2).

Bild 3

Bild 3

Bild 4

Bild 4

Drei Qi-Kreise: Die innere Energie Neiqi dehnt sich mit der senkrechten Linie im Körper nach unten aus, um sich dann allmählich im Kreis um die Schultern, Taille und Hüftgelenke herum zu verteilen und Qi-Kreise mit einem Durchmesser von ungefähr einen Meter zu bilden. Schulter- und Hüftgelenkskreis haben in etwa die gleiche Größe, der Taillenkreis ist etwas kleiner (siehe Bild 3)

„Der Körper gleicht einer alten Glocke“: Wenn man den Körper mit einer alten [Tempel-] Glocke vergleicht, dann befindet sich die obere Aufhängung dort, wo der Hals ist, und die Oberseite der Glocke, dort wo der Schulterkreis ist. Vier Fünftel der Glockenlänge unterhalb der Oberseite befindet sich der Taillenkreis und die Öffnung der Glocke ist dort, wo der Hüftgelenkskreis ist. Die senkrechte Zentrallinie im Körper entspricht dem Glockenseil. Der Klöppel hängt dann am unteren Ende der senkrechten Zentrallinie. Der Klöppel schwingt unablässig im Inneren an der Glockenöffnung nach vorne und hinten, links und rechts hin und her (siehe Bild 4)

Bild 5

Bild 5

Bild 6

Bild 6

„Die drei Pforten“: Dies bezieht sich auf Weilü Guan – die „Pforte des Steißbeins“, Jiaji Guan- die „Pforte der eingesäumten Wirbel“ und Yüzhen Guan – die „Pforte des Jadekissens“, die sich alle auf der Rückseite des Körpers befinden. Weilü Guan befindet sich am untersten Ende der Wirbelsäule. Oben schließt es ans Kreuzbein an, das untere Ende hängt frei; es befindet sich hinter und über dem Anus. Jiaji Guan befindet sich am Rücken, nämlich genau in der Mitte der Verbindungslinie zwischen den Ellbogenspitzen im Liegen. Yüzhen Guan befindet sich genau an der Stelle, an der der Kopf beim Hinlegen auf dem Kopfkissen aufliegt. Die innere Energie Neiqi steigt von unten nach oben entlang der drei Pforten auf, und zwar hoch und gleichzeitig nach vorne; wenn dabei der Oberkörper sanft nach vorne gebeugt wird, spricht man vom „Langmachen der drei Pforten“ – chang san guan (siehe Bild 5).

Wenn die innere Energie von oben nach unten entlang den drei Pforten bis zum Steißbein sinkt und dabei der Oberkörper sanft aufgerichtet wird, spricht man vom „Aufrichten der drei Pforten“ – shu san guan (siehe Bild 6).

Im Folgenden werden bei den Erklärungen zu der Bewegungsrichtung der Vorstellung Yi und der Energie Qi noch oft die Begriffe „Langmachen der drei Pforten“ und „Aufrichten der drei Pforten“ auftauchen. Es handelt sich um das „Langmachen der drei Pforten“, wenn die innere Energie sich entlang der drei Pforten für einen Augenblick nach vorne verlagert, um sich sofort danach aufzulösen. Es handelt sich um das „Aufrichten der drei Pforten“, wenn die innere Energie entlang der drei Pforten für einen Augenblick nach unten sinkt, um sich sofort danach aufzulösen. Das „Aufrichten der drei Pforten“ geschieht in den meisten Fällen auf Basis eines seitlichen „Langmachens der drei Pforten“.

Bild 7

Bild 7

Bild 8

Bild 8

Der Schwerpunkt zwischen den Füßen: Wenn man die Form läuft, sollte in der Vorstellung bei der Ausführung der Bewegungen im Zustand geöffneter Füße ein relativ stabiler Aufsetzpunkt [der Schwerpunktlinie am Boden] vorhanden sein. Wenn man die Entfernung auf der Verbindungslinie zwischen beiden Füßen in vier Abschnitte mit insgesamt fünf Punkten aufteilt, dann sind diese fünf Punkte die Stellen, auf welche die bildhafte Vorstellung bei ihrer Ausdehnung nach unten konzentriert wird. Die Positionen der fünf Punkte sind im Einzelnen:
Der vordere Fuß entspricht dem ersten Punkt, der hinter dem fünften. Der Mittelpunkt zwischen beiden Füßen ist der dritte Punkt. In der Mitte zwischen dem ersten und dem dritten Punkt liegt der zweite und in der Mitte zwischen dem dritten und dem fünften liegt der vierte Punkt.
Nachdem die bildhafte Vorstellung ihren Aufsetzpunkt am Boden gefunden hat, kann dies mit der Bewegung des Körpers eng koordiniert werden. Damit wird am ganzen Körper ein angenehmes Gefühl und vollkommene Beweglichkeit gewährleistet. Beim „Bogenschritt“ – gongbu setzt man in der Vorstellung am zweiten Punkt auf. Dadurch kann man dafür Sorge tragen, dass das vordere Bein nicht unbeweglich wird (siehe Bild 7). Beim „leeren Schritt“ – xubu setzt man in der Vorstellung am vierten Punkt auf. Dadurch kann man bewirken, dass das hintere Bein nicht ins Stocken gerät (siehe Bild 8). Wenn man genau mittig steht, setzt die man in der Vorstellung am dritten Punkt auf. So wird vermieden, dass sich der Körper an irgendeinem Punkt, innen oder außen, zu einer Seite neigt. Entspannung und Natürlichkeit sind damit gewährleistet.

Der Ausdruck in den Augen: Im Taijiquan stellt der Ausdruck in den Augen [wörtlich: der Geist der Augen] in Verbindung mit der Konzentration der Vorstellung Yi und der Energie Qi sowie in Koordination mit der Körperhaltung einen Weg dar, auf dem sich durch die Veränderung der Stelle, auf die der Blick trifft, Geist und Wucht des Inneren manifestieren.
Der Ausdruck in den Augen muss sich in der Praxis koordiniert mit jedem Öffnen und Schließen der Bewegungen des Körpers und der Ausrichtung der Vorstellung Yi und der Energie Qi ausdehnen und zurückziehen. Auf diese Weise kommt es zu einer Übereinstimmung des ganzen Körpers – innen und außen, oben und unten – und Geist Shen, Vorstellung Yi und Energie Qi schließen sich zusammen. Was man hierzu erklären muss, ist, dass das Zurückziehen und Ausdehnen des Ausdrucks in den Augen nichts mit einem Aufreißen oder Zusammenziehen der Augen an sich zu tun hat. Sondern es handelt sich um den Wechsel in den Aktionen der Vorstellung Yi und Energie Qi in ihrer Ausdehnung nach vorne und ihrem Zurückziehen, der sich in dem Verlauf eines Blickes manifestiert. Wenn sich der Ausdruck in den Augen nach vorne ausdehnt, gilt es, die innere Energie Neiqi ohne Anspannung von den äußeren Augenwinkeln aus auszustrahlen. Beim Zurückziehen zieht man schrittweise die Energie der Augen aus dem weiten Blickfeld zur Mitte hin zusammen, um sie dann von der Mitte der Augen zum unteren Teil der Augen einzuziehen. Wenn man regelmäßig dieses spezielle „Öffnen“ und „Schließen“ des Blickes durchführt, kann man die Versorgung der Augen mit Nährstoffen unterstützen. Dies ist von großem Vorteil, um die Sehkraft zu verbessern, aber auch damit der Blick an Ausdruckskraft gewinnt.

Zum Beitrag „Gesundheits- und Kampfform“


[1] Auffällig ist hier, dass Wang Yongquan bzw. seine Ghostwriter nicht näher bestimmen, von wem genau aus der Yang-Familie Wang diese Form gelernt hat. Sein Hauptlehrer war Yang Chengfu, er hat aber zunächst von Yang Jianhou bis zu dessen Tod 1917gelernt. Die Form „Alte Sechs Bahnen“ unterscheidet sich in jedem Fall stark von allen späteren Varianten der 85er Yang Chengfu Form.

[2] Yuanqi 元气 – die grundlegende Lebensenergie, die sich im Mutterleib entwickelt und deren Ausprägung und Stärke die Konstitution des Einzelnen für das ganze Leben wesentlich bestimmt.

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