Peng – die Mutter aller Taiji-Kräfte. Keine Beschreibung des Taijiquan kommt ohne diesen Begriff aus. Es steht an erster Stelle unter den acht Grundkräften. Auch sprachlich ist Peng etwas Besonderes: Während die anderen Ausformungen der inneren Kraft im Taijiquan mit in der chinesischen Alltagssprache gängigen Wörtern bzw. Zeichen beschrieben werden, ist das für Peng verwendete Schriftzeichen 掤 sehr selten und hat normalerweise einen  anderen Laut. Peng wird nur in einigen wenigen Kampfkunsttraditionen als ein Fachbegriff verwendet. Sein Ursprung liegt in Speerkampfmethoden der späten Ming-Zeit.

Von Stefan Gätzner

In einem der zentralen Texte des Yang-Taijiquan[1], wird Pengjin, die essenzielle Kraft Peng, wie folgt erklärt:

„Wie ist die Bedeutung von Pengjin zu erklären? Es gleicht dem Wasser, das das Boot bei seiner Fahrt trägt. Erst füllt man das Qi des [unteren] Dantian an, als Nächstes ist es dringlich, dass der Scheitelpunkt wie aufgehängt ist. Am ganzen Körper herrscht Federkraft. In einem Moment des Stillstands geschehen Öffnen und Schließen – selbst wenn du tausend Pfund an Kraft hast, ist es auch nicht schwierig, dich nach oben treiben zu lassen.“

In diesem kurzen Absatz werden die wesentlichen Qualitäten von Peng auf den Punkt gebracht: eine in alle Richtungen sich ausbreitende federnde Kraft. Gleichzeitig wirkt Peng wie der Auftrieb des Wassers – die Folge ist eine Entwurzelung des Gegners. Qualitäten, die mit der gängigen englischen Übersetzung „Ward off“ nur unzureichend widergegeben werden. Als Annäherung verwende ich hier gerne den Begriff „schwellende Kraft“. Aber über dieses Formulierung kann man sich natürlich genauso trefflich streiten. Tatsächlich lässt sich aber eine exakte Entsprechung nicht finden, daher ist es oft besser Peng oder Pengjin als einen Terminus technicus stehen zu lassen.

[1] Aus Bafa Mijue 八法秘诀, „Geheime Formel der acht Methoden“, von Tan Mengxian 谭梦贤, einem Schüler von Yang Shaohou. Die Formel erläutert ganz knapp die acht Kräfte (peng, lü, ji, an, cai, lie, zhou, kao) und ist Bestandteil der „Erklärungen zu den Prinzipien des Push Hands“, 推手法之原理说明. Über Tan Mengxian ist leider nichts Näheres bekannt.

Lexikalische Bedeutungen

Denn auch wenn man ein gewöhnliches chinesisches Wörterbuch aufschlägt – oder eine Online-Version konsultiert, wird man nicht viel schlauer. Dort findet das Zeichen 掤 mit der Aussprache bing. Die Bedeutung: Deckel eines Pfeilköchers. Aufgrund dieser doch sehr speziellen Bedeutung findet das Zeichen entsprechend nur sehr selten Verwendung, auch in anderen Kampfkünsten – egal ob innere oder äußere Stile – ist es nicht gängig. Im Taijiquan indes nimmt der Begriff eine zentrale Stellung ein – an erster Stelle als eine grundlegende strukturelle Qualität aller Bewegungen. Um die Verwirrung perfekt zu machen, bezeichnet Peng auch noch konkrete Einzeltechniken, die je nach Taiji-Stil und Überlieferung wiederum unterschiedlich ausgeführt sein können.

Doch wie erklärt sich die nach oben treibende, federnde und entwurzelnde Kraft aus dem Zeichen 掤 peng? Eine geläufige Interpretation in Taiji-Kreisen ergibt sich aus der lautlichen Verwandtschaft von peng 掤 im zweiten Ton mit dem Zeichen peng 捧 im dritten Ton (z.B. hier aus dem Chen-Stil heraus erklärt). Letzteres hat die Bedeutung „mit beiden Händen halten/tragen“(mit den Handflächen nach oben). Damit wird eine nach oben gerichtete – „entwurzelnde“ – Bewegung zum Ausdruck gebracht. Die Aspekte der Federkraft und der Ausdehnung in alle Richtungen, die für das Taijiquan essenziell sind, bleiben hierbei außen vor. Dennoch: Diese Beschreibung kommt der ursprünglichen Verwendung des Begriffs Peng 掤sehr nahe, so wie in einigen älteren Textquellen der chinesischen Kampfkünste noch zu finden ist.

Chang Naizhou und seine Faustkampftechnik

Im Taijiquan taucht das Zeichen Peng 掤 zusammen mit den anderen Arten der „acht Methoden“ erstmals in den klassisch Text von Wang Zongyue im Text Taijiquan Shiming, „Erläuterung des Namens Taijiquan“ auf. Die Lebensdaten und selbst die Historizität von Wang Zongyue sind jedoch umstritten. Doch in einer anderen Kampfkunst, die ins 18. Jahrhundert zurückreicht, wird der Begriff verwendet. Chang Naizhou (1724-1783) schrieb über seinen Kampfstil das Chang Naizhou Wuji Lun – „Abhandlung über die Kampftechnik von Chang Naizhou“. Trotz der geographischen Nähe von Sishui, der Heimat Changs, zu Chenjiagou, dem Ursprungsort des Taijiquan, zeigt sich in der technischen Ausführung seiner Kampfkunst keine Verwandtschaft zum Chen-Stil. Dennoch: In seinem Text werden Elemente der inneren Alchemie systematisch mit Bewegungsabläufen seiner Kampfkunst in Verbindung gebracht. Unter diesem Aspekt bestehen durchaus Parallelen zwischen Changs Stil und den als klassisch angeshenen inneren Kampfkünsten Chinas Taijiquan, Baguazhang und Xingyiqquan.

Allerdings ist auch bei Chang Naizhou Vorsicht angebracht: Die heutige Fassung des Textes stammt aus den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts. Es ist unklar, ob alle Inhalte wirklich auf Chang zurückgehen. Die darin beschriebene „Form in 24 Figuren“ – der technische Kern von Changs Kampfkunst – gilt jedoch als authentisch. Die Form wird in drei sehr unterschiedlichen Ausführungen beschrieben: die hohe, mittlere und tiefe Form in 24 Figuren. Bei der mittleren Variante heißt es bei der Technik Shi ru chang hong juan jia – „Bewegungsablauf, gleich einem langen Regenbogen der bis in die Ferne eine Abwehr aufreiht“:

Chang Naizhou_1-Shi ru chang hong juan jia
„Hierbei handelt es sich um folgende Handtechnik: In einem Atemzug drückt man nach oben [peng], während man gleichzeitig [den Gegner] rammt [zhuang]. Unten drückt man gegen den Schulteransatz des Gegners, oben schlägt man auf das linke Auge [des Gegners].“

(Zur vergrößerten Ansicht jeweils auf das Bild klicken)

 

Diese Technik weist in der beschriebenen Ausführung und Anwendung Ähnlichkeit zum zweiten Teil von Pie shen chui, den „um den Körper geschleuderten Faustschlag“, wie sie in den alten Varianten des Yang-Stils noch vorhanden ist. Die Verwandtschaft erscheint angesichts der großen technischen Unterschiede zum Taijiquan aber eher zufällig.

Bei einer zweiten Technik in der gleichen Form verwendet Chang Naizhou ebenfalls den Begriff peng. Bei Yecha tan hai qiao shou wang, „Beim Erkunden des Meeres hebt der Yaksha den Kopf und späht“, heißt es:

Chang Naizhou_2-Yecha tan hai qiao shou wang
„Dies ist eine Handtechnik bei der man mit dem Körper nach vorne drängt und den Arm nach oben drückt [peng]. Folgend auf die vorangegangene Position lässt man sich nach vorne fallen. Man dreht den Körper kurz ein und richtet sich auf. Die linke Hand drückt [peng] horizontal nach oben bis über die Stirn. Die rechte Hand schwebt frei vor dem rechten Hüftgelenk. Man beugt sich in den Gegner hinein und drück ihn nach oben [peng].“

 

Bei beiden Techniken beschreibt der Begriff Peng eine nach oben und außen bzw. vorne gerichtete Bewegung. Die Qualitäten der Federkraft oder des Auftriebs eines Körpers im Wasser aus dem Taijiquan findet hier keine Erwähnung. Abgesehen von der genannten technischen Parallele der ersten oben beschriebenen Technik zum Yang-Stil, deutet dies wiederum auf eine einfachere und somit ursprünglichere Bedeutung des Begriffs hin. Hier findet die Vermischung von mehreren Qualitäten und den verschiedenen Ebenen von grundlegender Bewegungsorganisation und einzelner Technik wie im Taijiquan noch nicht statt. Es wird damit schlicht eine Bewegung beschrieben.

3 Kommentare

  1. Schöner Text! Und schön, dass Du wieder schreibst!

    Die ursprüngliche Bedeutung „Deckel eines Köchers“ (Bing) bezieht sich wahrscheinlich auf ein Behältnis für Armbrustbolzen (Pfeilköcher hatten zumindest in den letzten Jahrhunderten seit den Mongolen keine Deckel), das tatsächlich bei Betätigung des Öffnungsmechanismus aufsprang, weil der Deckel unter Druck, etwas Spannung steht. Die Verwendung für Peng oder Pengjin ist also möglicherweise doch nicht soweit hergeholt. Dem Übersetzungsvorschlag Anschwellen fehlt aber eben dieser Klack des Öffnens, Pengjin an sich entsteht erst bei Berührung und zeigt sich in der partnerlosen Arbeit nur dem geübten Auge.

    Die in den Langspeertechniken vorkommende Bewegungsqualität zeigt ganz subjektiv aus der eigenen Praxis heraus betrachtet wirklich nur sehr geringen Bezug zum Peng der waffenlosen Taijiquan-Formen.

    Be well and train hard!

  2. Habe den Blog jetzt erst gefunden und finde es toll damit essenzielle Grundfragen hier weiterhin beleuchtet werden. Das ist auch der Unterschied zu einer lebendigen Sache anstatt ständig englischsprachige Quellen zu benennen die für das wirkliche Verständnis meist noch mehr unschärfe aufkommen lassen.

    In einem Text von Chen Li Xian (http://www.cntjq.net/article-8479-2.html), welchen ich gerade übersetzt habe wird 掤 Bing benutzt. Darin kommentiert er Inhalte seines Boxlinien-Vorfahren Chen Xin. Früher hatte ich das Schriftzeichen zuerst für einen Schreibfehler gehalten. In dieser Übersetzung habe ich versucht den Dingen auf die Spur zu kommen und in der Fußnote folgendes kommentiert:

    掤 Bing – Pfeilköcher (Behälter für Pfeile beim Bogenschießen), Radikalbetrachtung: mit den Händen etwas zusammenbringen – daher: ausweiten oder mehren (und verbinden) – normalerweise wird heute immer Peng anstatt von Bing genannt, wobei dann häufig das Schriftzeichen variiert, mögliche Ursache ist eine dialektische Aussprache welche fälschlicherweise ihren Weg in die moderne Zeit gefunden hat

    Ich finde es gut wenn wir die Dinge beim richtigen Namen benennen können. Kennt sich jemand mit den gesprochenen Dialekten von der Jiaozuo Präfektur bis in die Gegend des Kreises Hong Dong in Shanxi aus?

    Mich würde noch interessieren woher die Vermutung angeregt wurde das mit Bing ein Behälter für Armbrustbolzen plus Schnappdeckel gemeint sein könnte. Gab es bei Bögen andere Pfeilbehälter, kann man so etwas in Museen finden oder als Nachbau irgendwo in die Hände bekommen?

    • Stefan Gätzner

      Herzlichen Dank für den Kommentar. Das Zeichen 掤 bing besteht ja aus dem sinngebenden Radikal Hand 手 und dem Lauter 朋 peng. Aus dem Lauter wird klar, warum es zu der alternativen Aussprache kam, insbesondere da chinesische Kampfkünstler im kaiserlichen China zumeist ungebildet waren. Bei einem so seltenen Zeichen wie 掤 ist es sowieso schwierig von einer einheitlichen oder „korrekten“ Aussprache zu reden, da fangen auch manchmal Muttersprachler zu raten an. In verschiedenen Lexika findet man die Erklärung Pfeildeckel, bzw. Bolzendeckel. Zu dem Hinweis zum Federmechanismus im ersten Kommentar habe ich leider keine weitere Quelle. Abbilder oder ein Museumsstück sind mir ebenfalls nicht bekannt.

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